Donnerstag, 8. Oktober 2015

Über die Authentizität von Installationsplänen

Wenn ich auf die Pläne unserer Baustelle schaue, verstehe ich Bahnhof. Ich weiss nicht in welchem Haus ich bin, sowieso nicht in welcher Wohnung. Alles sieht im Realen so anders aus, da noch keine Wände eingezogen sind, das ganze Gebäude gleicht eigentlich einem riesigen Loft ohne Raumeinteilung. Wenn ich irgendwo arbeite, muss man mir vor Ort erklären, was ich zu tun habe, die Pläne nützen mir nichts. Vor 23 Jahren konnte ich wie eine Eins Pläne lesen, heute brauche ich sehr viel Zeit, bis ich sie begriffen habe. Ich will das auch gar nicht mehr lernen, denn das kostet mich zu viel Zeit und Energie, Zeit und Energie, die ich lieber in die Arbeit an der Installation investiere. Das wissen meine Kollegen und sie akzeptieren dies auch. Ich will authentisch sein, ich will nicht so tun als könnte ich etwas, das ich nicht wirklich kann, ich wüsste etwas, was ich nicht (mehr) wirklich weiss. Diese Authentizität wird von meinen Kollegen akzeptiert, wenn nicht gar geschätzt.
Der Begriff Authentizität bekommt eine völlig neue Dimension, wenn man "under cover" arbeitet. Was darf ich sagen, ohne alles zu verraten, was darf ich sagen, ohne zu lügen? Und so langsam beginne ich zu begreifen, welchen Stellenwert Authentizität in meinem Beruf als Pfarrer hat. Als Stromer kann ich in den dreckigen Überkleider durchs Dorf schlurfen, das stört niemand. Als Pfarrer wird von mir ein standesgemässes Auftreten erwartet und das nicht nur äusserlich. Vor allem im Blick auf meinen Charakter, mein Leben, meine Eheführung, mein ökologisches Bewusstsein, mein soziales Engagement, meine Geduld, meine Frömmigkeit, meine Bibeltreue und so weiter und so fort. Der Begriff Pfarrer beinhaltet so viele fixe Vorstellungen, die sich zum Teil sogar widersprechen, wie kann ich als Mensch in dieser Erwartungsfülle überhaupt authentisch sein? Aspekte wie Zweifel, Unglaube, Ratlosigkeit, Lustlosigkeit, Müdigkeit, Gottesferne, Aggressivität, Unfreundlichkeit, Ungehaltenheit usw. sind alle nicht in der Fülle "positiver" Konnotationen des Pfarrerbildes vorgesehen. Authentizität würde aber heissen, dass der Pfarrer authentisch sein kann und zu seinen Schwächen stehen darf, ja sogar muss. Und notwendigerweise müsste aber das Umfeld des Pfarrers, seine Gemeinde seine "Schwächen" nicht als bedauerliches Defizit anschauen, sondern als Teil einer Persönlichkeit, die nun mal so ist. Die Idendität des Pfarrers muss, wie die Idendität eines jeden Menschen, notwendigerweise "prozesshaft, unabgeschlossen und bruchstückhaft" sein. (vgl. Klessmann Pfarrbilder im Wandel. S. 20). Wie will ein Pfarrer die Gnade Gottes predigen, wenn er so lebt, als bräuchte er diese Gnade selber gar nicht? Wie will ein Pfarrer glaubwürdig von der Liebe Gottes erzählen, wenn er so tut, als sei er selber Gott? Wir können nur die Gnade, die Liebe Gottes predigen, wenn wir sie Tag täglich immer neu in unserem eigenen Scheitern und trotzdem Angenommensein erfahren, brauchen erbitten müssen. 

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